Ist Fußball alles für Deutschland oder ist Deutschland ohne Fußball nichts?

30 Juni 2014
Autor :  

Die wollen doch nur spielen

Unlängst hat eine Freundin von mir im Krankenhaus gelegen. Der Befund ist glücklicherweise positiv ausgefallen. Sogar viel positiver als erwartet. Jedoch hat mich ihr Kommentar am Telefon dann schockiert: "Alles gut, alles gut. - Aber jetzt kann ich deswegen nicht mal das Deutschlandspiel sehen."

Wann genau, frage ich mich, ist denn etwas wie die Fußball WM wichtiger geworden als unsere Gesundheit? Gewiss, der Deutsche rackert sich gern krumm und dämlich für irgendeinen Job, wonach er dann sein errackertes Geld für die minimale Rehabilitation seines Körpers und Geistes ausgibt. Allerdings lehrt man uns dieses perverse Verhalten seit Jahrzehnten als unbedenkliche und natürliche Kausalität. Das kann man also noch verstehen.

Aber dieser Party-Patriotismus? Des Deutschen bösestes Busenblättchen postet unverdrossen auf Facebook kesse Filmchen, die völlig zugelötete Elemente zeigen. Und diese Elemente brüllen unverdrossen in irgendeine Kamera: „Wir sind ein unaufhaltsamer Aal.“ Sie brüllen, als hätte ihre Aussage eine Bedeutung. Als hätten sie eine Bedeutung. Als hätten die kleinen Männchen auf der Leinwand eine Bedeutung.

Ein anderer, der auf erschreckende Art und Weise aussieht, als wäre er extra für die JU zusammengeschraubt und aufgeblasen worden, grölt: „Super Typen sin' wa. Wir wern Weltmeister, du!“ - Nein. Eben nicht. „Wir“ werden gar nix. Dieses „Wir“ ist so existent wie das „Wir“ der SPD(-Plakate). Wir bekommen nix, wenn die deutschen Spieler gewinnen. Nein, wir stehen sogar noch in der Pflicht, unseren „Helden“ zu huldigen und die Kanzlerin als göttliche Fußballmami zu feiern. Wir müssen nach einem Sieg „stolz“ sein und „Flagge“ zeigen und uns freuen, dass wir Deutsche sind. Da geht mir echt die Lampe aus. Hoffentlich gibt es bald ein Gesetz, dass wir während, vor und nach der WM über alles und uns übergroße Deutschlandkondome stülpen müssen. Der Sauerstoffmangel macht nix, wenn kein Denkapparat vorhanden ist. Überhaupt sollte der Sauerstoff zur Ware gemacht und extrem teuer verkauft werden, damit sich nur die Reichen das Denken leisten können. Und dann sollten wir uns alle wieder auf politische Pläne konzentrieren, die HartzIV-Empfängern vorschreiben , dass sie ihre Organe verkaufen müssen, wenn sie nicht genug Geld haben, diese faulen Säcke. Und dann sollten wir in einen großen Bottich koten und den über uns auskippen. Und dann sollten wir geschlossen Merkel wieder und immer wieder wählen und unterschreiben, dass wir ihr und ihrer dicken Schießbudenfigur jeden Tag zu Willen sind. Wir sollten uns von ihr, wann immer es Madame passt, durchfi...

Entschuldigung, hier bin ich wieder. Ich musste nur schnell zur Beruhigung ein paar Straßenlaternen umsägen. Die nutzen uns eh nichts mehr, sollte der Volkszorn doch entflammen, seit sie begradigt worden sind.

Wir waren beim gesamtdeutschen Nutzen des Nationalstolzes, ausgelöst durch Gefallene – also Tore. Er ist also nutzlos. Egal, ob wir auf einen Müller oder die deutsche Würschtlkaufkraft stolz sind. Deutschland auf dem Vormarsch. Toller Titel, nur leider hat kein Mensch was davon. Das sieht man unter anderem bei Westerwelle. Sicher, die Reichen verdienen. Aber die wohnen halt nicht in der Mondstraße in Giesing, sondern über den Wolken in einer Stadt, die die meisten von uns nie bereisen werden können, und sie verdienen auch, wenn ein Land verkommt. Beispiele: Griechenland, Afrika, Deutschland (geistig).

Deutschland gewinnt gegen Amerika. Und unsere Politiker führen sich gegenüber Obama & friends auf, als wären sie Kunden in einem Dominastudio. Merkel erweist dem Präsidenten der Vereinigten Staaten die Ehre, einem Mann, der von oben herab verarmte Familien in Lateinamerika dazu anhält, ihre Kinder vom Einwandern abzuhalten. Und zwar hält er sie mit Drohungen über Zuhälter dazu an. „Wir wissen noch nicht einmal, wie viele dieser Kinder es nicht schaffen. Sie enden womöglich im Sexhandel oder kommen ums Leben, wenn sie vom Zug fallen“, sagt Obama im Ton des Retters, des Helfers, des präsidialen Freundes, der nur besorgt um arme Kinder ist. Nicht darum, dass die Einwanderer stören könnten (was das wieder kostet!) oder die Polizei aufhalten. Die könnte nämlich, statt diese Kinder aufzugreifen (was das wieder kostet!), wie es geschehen ist, die richtigen Verbrecher jagen. Staatsfeinde. Feinde der Freiheit. Terroristen.

Und wo wir schon beim Herabwürdigen und Abkanzeln sind, befassen wir uns noch ein bisschen mit dem NSA-Aufwasch. Es hat ein Cyber-Dialog stattgefunden – ausgerechnet – zur berühmten Affäre. Und da hat sich wohl auch für den Dümmsten erschlossen, dass die Amis überhaupt keine Bedenken, geschweige denn Schuldgefühle haben. In den Ohren der NSA klingt die Spionage wie das Echo vom Königssee: gottgewollt, natürlich und völlig logisch. Frank Walter Steinmeier, meine Damen und Herren, der Dobermann der Russlanddiskussion, hat sich dem Cyber-Dialog gestellt. Und unter anderem vor sich hinphilosophiert: „Lassen Sie uns miteinander nach vorn gehen, statt uns ineinander zu verhaken.“ Also lieber eine Marschmauer, denn ein Uhrwerk? Ist eh Wurscht. Denn NSA und Snowden sind Schnee von gestern. John Podesta, Berater vom großen Obama, kam, sah und sagte etwas von wegen einem „robusten, transparenten Dialog“. Ob er jetzt nur vom Cyberspace geredet hat? Und was das eigentlich bedeuten soll? Wer weiß das schon.

Das passiert, während sich Deutschland die letzten Minifahnen und Senfflecken abwäscht, um Platz für frische zu schaffen. Und, dass irgendwelche Leute sich das Recht herausnehmen, unser Recht auf Privatsphäre oder Freiheit zu negieren und uns dabei ganz frech ins Gesicht lachen, regt derzeit naturgemäß fast niemanden auf. Denn Deutschland hat GEWONNEN!

Dann hält einem die Autovermietung Sixt ein Plakat vor den Rüssel, auf dem ein einwandfreier Mercedes zu sehen ist und, als Gegner, ein alter, völlig überfüllter Jeep aus Ghana. Slogan: „Das könnte eng werden.“ Wonach sich weißhäutige Fans die Gesichter schwärzen und in Schwarz „Ghana“ auf weiße Shirts pinseln. Und kurz darauf darf man sich das kalte Grausen in den Nacken setzen lassen, von völlig ironiefreien Statements wie: "Auf geht’s, Deutschland, kämpfen und siegen!" Haben wir denn wirklich so wenig Feingefühl? Auch in Anbetracht der brasilianischen Straßenkinder, die wie Dreck von der Straße geschoben werden, weil sie das WM-Stadtbild stören? Oder sehnen sich die deutschen Massen danach, diesen Satz zu brüllen, bis die aufgemalten Deutschlandfahnen vor lauter Kampfschweiß im Gesicht zu einer braunen Schlonze gerinnen?

Es ist immer das gleiche Prinzip: Menschen versammeln sich in Massen, um sich massenhaft zu entmenschen. Das macht alle gleich. Und die anderen, die Merkels und Beckenbauers und Müllers, macht es gleicher.

Fußball, Oktoberfest, Armut, Eitelkeit, Machtgier, Konsum: Dies alles ist das Gleichheitsprinzip eines Systems, das uns auf die Schultern gehievt und jeden Tag aufs neue als alternativlos und logisch verkauft wird. Zwischen den Spielergebnissen und Werbespots.

19898 Aufrufe
Andrea Limmer

Freie Journalistin

Top