Sind Charakter und Moral am Anfang und Ende der Wurstzipfel der deutschen Politik?

01 September 2015
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Das erforderliche Ende der Forderungen im Hinblick auf die Rücksicht - und in weiser Voraussicht

Während man wochenlang zu zweit in einem Campingbus unterwegs ist, denkt man über viel nach. Am meisten, da man damit in jeder Minute konfrontiert wird, darüber, wie man friedlich zusammen leben und jeden Tag für jedermann schön gestalten kann. Der Mensch hat eigentlich – und eigentlich ungewohnt vernünftig - früh begonnen, Regeln für ein friedliches Zusammenleben aufzustellen. Allerdings beherrscht der Mensch diese meist so souverän wie deutsche Kommaregeln.

Also sagen wir: Es wurde und wird versucht, ein Nebeneinander zu ermöglichen, ohne dass Mensch A dem Menschen B den Schädel mit einem stumpfen, schweren Gegenstand zu Brei malträtiert, bloß weil Mensch A die Nase von Mensch B missfällt. Eine ungeschriebene aber sehr wichtige Regel für den alltäglichen Hausgebrauch ist die Rücksichtnahme. Diese ist umso wichtiger, je enger die Menschen nebeneinander hocken und sich kratzen. Das Kratzen ist indes eh geregelt und darf nur getan werden, wenn es den Nebenmenschen nicht juckt.

Oder anders formuliert: Isst jemand in der hinteren Mongolei seit Wochen Sauerkraut und gast ab, ist mir das wurscht. Hockt der Sauerkrautjemand neben mir, entsteht wahrscheinlich ein derartiger Konflikt, der das Zusammenleben noch mehr als der Sauerfurz verpestet – oder gleich beendet. Rücksichtnahme fängt demnach an, bevor ein anderer gestört wird. Dies setzt einen wachen Geist voraus, der nicht als erstes Wort „ich“ in jedem Gedanken führt, sowie eine emotionale Festigung, die es einem erlaubt, neugierig zu sein und die Unterschiede zwischen den Menschen zu lieben.

Im Camper-Fall bedeutet Rücksichtnahme zum Beispiel ebenfalls, dass man die Umgebung, in der man kampiert, weder vermüllt noch zulärmt. Was man sehr schön auf das tägliche Leben übertragen könnte.

Der bayerische Seehofer-Staat sollte sich beispielsweise fragen, bevor er wieder eine „Mia-san-mia“-Parole hinausposaunt, wie er es fände, würde ein anderes Bundesland mit verschränkten Armen raunzen: „Atommüll produzieren? Ja freilich! Atommüll lagern? Nein danke!“ Wer zusammen Müll produziert, muss ihn – wie beim Campen oder im Haushalt - gemeinsam entsorgen. Wer das vermeiden will, muss den Müll vermeiden. Ich bin natürlich alles andere als begeistert von dem Gedanken, dass in meiner Heimat ein Atomendlager entsteht. Allerdings geht mir die oben genannte Seehofer-Haltung ziemlich auf den Keks, da sie mit dicken Strichen das Klischeebild des rechthaberischen, trotzigen Bayern nachzeichnet, der außerhalb von Volksfesten keinen Schimmer hat, wie man „Gastfreundlichkeit“ oder „Solidarität“ schreibt. Ja, man kann sich kaum noch der Diagnose erwehren, der Freistaatler sei nur beim gemeinsamen Bier- und Bratenspeien empathisch. Bei der Atommüllfrage sieht man, was passiert, falls sich Menschen noch im Nachhinein gegen die Rücksicht oder ein Miteinander sperren. Dann rumpeln sie wie ein Panzer über die Wünsche oder grundsätzlichen Bedürfnisse anderer.

Aber freilich darf man Regierungen ähnlich wie Tiere nicht vermenschlichen. Ich finde, man sollte unbedingt einmal an Regierungen, Parteien, Politiker, Angela Merkel und Konsorten allgemeingültige Anforderungen bezüglich Charakter samt Moral stellen. Im Umgang mit Tieren sollte man wiederum, allein aus Rücksichtnahme, deren Bedürfnisse gleichermaßen wichtig wie unsere nehmen. Den Satz: „Aber der Mensch braucht Fleisch!“, hebelt man ja leicht aus, mit: „Aber die Sau braucht Sauberkeit!“ (Anders als viele Menschen übrigens.) Man könnte genauso sagen: „Aber das Huhn braucht mehr Platz als ein Blatt Papier!“ Oder: „Aber die Kuh braucht sonnige Weiden!“ Oder ganz einfach: „Wenn der Mensch Fleisch braucht, muss er zusehen, dass es ein gutes ist, was er isst.“, rein aus Rücksichtnahme auf seinen Körper und den seiner Mitmenschen.

Gastfreundlichkeit – das Wort ist mit Bedacht gewählt. Denn niemand kommt umhin, über die Flüchtlingssituation nachzudenken. Und gleichzeitig über diese gruseligen, alltagstauglichen, rechten Parolen, die man sich hierzulande über die frisch gestrichenen Gartenzäune zuruft. „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen, oder?“

Mit diesem Satz rechtfertigen gewisse Zeitgenossen alle an den Haaren herbeigezogenen, rassistischen dünnflüssigen Kuhfladen die aus ihren Mündern quellen. Und gemächlichen strömen diese hass- und angsterfüllten Rinnsale zusammen, auch aus den Rundfunkempfängern, bilden Bächlein durch unsere Straßen, erfüllen nach und nach ein jedes traute Heim mit dem ekelhaften, dumpfen Gestank des Rassismus, um schließlich in die Köpflein zu rinnen, welche besorgt über ihre Abendbrote gebeugt werden, damit ihnen niemand die Butter vom Brot nehme. Brot, das man in großen Mengen wegwirft, weil man es sich leisten kann. Es ist Deutschland hier und das soll jeder merken.

Dabei könnte man sich so leicht vor der irrigen Annahme schützen, dass Deutschland am meisten – vulgo: „nur noch“ - Flüchtlinge aufnehme. Tatsächlich haben dies in der Relation gesehen der Libanon und (in Europa) Schweden getan. Auf den gemeinen Deutschen kommen bisher zwei Flüchtlinge. Sicher, Großbritannien hätte zum Beispiel ebenfalls mehr Flüchtlinge aufnehmen können/sollen. Aber wenn ein jeder sich hinstellt und sagt: „Ich fang erst an, nachdem du angefangen hast!“, dann gibt es bald keine neuen Kinder mehr – dafür immer  mehr Atommüll.

Vertreibt man nur für einen kurzen Moment den Blaskapellenkrach und den Bratwurstdunst aus seinem Hirn, kommt man darauf, dass die Flüchtlinge nicht aus reiner Freude an der Gaudi ihr Leben in Schlepperhände legen, um vielleicht elendiglich mit 39 anderen Menschen in einem Schiff zu ersticken. Aber nein, der deutsche Bürger sieht sogar den neuen, recht rührigen Nazis zu, wie sie Flüchtlingsheime angreifen und anzünden, währenddessen vielleicht noch murmelnd: „Irgendwie haben die schon recht. Es kann ja nicht immer so weiter gehen.“ Das postet der Bürger dann vielleicht sogar auf Facebook, mit irgendeinem Video von angeblichen Flüchtlingen, die angeblich unser schönes Land ramponieren. Und 88 anderen Kleinbürgern gefällt das.

Zweifellos kann es nicht so weiter gehen. Und zwar erst einmal hinsichtlich der fürchterlichen Situation für die Flüchtlinge, bitte schön! Der Spiegel vermeldet, dass fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht seien, „so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.“ Und diese Menschen flüchten unter anderem vor dem IS in Syrien und im Irak oder vor den Taliban in Afghanistan. Und eines sage ich jetzt ganz deutlich: Ich, in deren Situation, würde sofort flüchten und zusehen, dass ich meine Lieben und mich in ein Land verfrachte, in dem wir nicht gemeuchelt oder gequält werden, bloß weil „mia mia san“ und vielleicht die „falsche“ Religion haben.

Derweil stehen die immer gleichen Nasen im Bundestag, um etwas zu „fordern“. Die SPD fordert etwa eine „aktivere Rolle des Bundes“ bei der Flüchtlingspolitik oder die „Aufrüstung“(!) von KITAS, damit Flüchtlingskinder ganz schnell Deutsch lernen. Ich würde liebend gern, gerade dem Tod und der Folter entronnen, als erstes den Unterschied zwischen Dativ und Genitiv lernen. Ich fordere an dieser Stelle, dass man Flüchtlinge erst das Deutsch in den Mund zwingt, nachdem alle deutschen Politiker anständig Deutsch gelernt haben.
    
Falls irgendein Mensch es fertig bringt, ein Problem zu lösen, indem er lediglich die Lösung des Problems fordert, dann spendier ich ihm eine Maß auf der Wiesn.

Wie unsinnig die dauernde Forderei ist, erklärt man am besten am Camper-Beispiel: Die Menschen C und D stehen mit dem Campingbus in der Pampa. Sie stehen hungrig auf und verfügen nur über ein Frühstücks-Ei, wobei beide das Ei möchten. Dann gibt es erstens einen kleinen Notstand und zweitens einen zwischenmenschlichen Konflikt. Falls beide das Ei fordern, entsteht Streit. Fordert Mensch C laut wie nachdrücklich das Ei, entsteht ebenfalls Streit oder aber eine miese Stimmung, weil Mensch D zwar nachgibt, aber (zurecht) beleidigt ist. Wenn sich beide empört aufrichten und in die menschenleere Wüstenei plärren: „Wir, die Vorsitzenden der Busfraktion, fordern mehr Eier! Jetzt sofort! Es gibt keine Alternative!“, tangiert das nicht einmal das einsame Steinmännchen neben ihrem Campingbus. Die Lösung müssen beide ergo logisch angehen und bedachtsam aufeinander eingehen. Zum Beispiel könnte noch Wurst da sein, die Mensch C aus ethischen Gründen verweigert, Mensch D aber nicht. Die Wurst stopft nun das Hungerloch, welches das fehlende Ei hinterlassen hätte, und Mensch C kriegt das Ei. Oder, und jetzt wage ich mich weit vor, die zwei TEILEN sich das Ei.

Forderungen sind das Kryptonit der Rücksichtnahme.

Die Rücksicht, die Liebe zu - oder wenigstens das Interesse an - Unterschieden und eine gewisse heitere Milde sind zwingend für das friedliche Zusammenleben. Und in diesen Zeiten, die einen ob des rechtspopulistischen, hasserfüllten, biedermeierischen Lärms oft verwundert mit den Ohren wackeln lassen, sind diese Charaktereigenschaften global und gegenüber Fremden fast noch zwingender als im familiärer Umfeld. Schließlich sind wir alle digital vernetzt, ja, sogar mit dem pupsenden Sauerkrautesser aus der Mongolei -aber uns gleichzeitig völlig fremd.

Also lasst uns zivilisiert sein, nicht nur hinsichtlich grüner Smoothies und einem trendigen Umweltbewusst-Schein.
Lasst uns Menschen sein, Menschenskinder!

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Andrea Limmer

Freie Journalistin

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